Selig, wenn ihr um der Gerechtigkeit willen verfolgt werdet…

Martyrium in Moskau

Vom 16. bis 21. Juni 2014 konnte ich in Moskau sein – anlässlich der Priesterweihe von zwei Freunden am 21. Juni in der Kathedrale von Moskau. Ich wohnte in der Kurie mit Blick auf die schöne und große neugotische Bischofskirche aus rotem Backstein – ein Wunder der auferstandenen Kirche nach dem Kommunismus, denn damals war dieses Gebäude in viele Etagen eingeteilt und als Fabrik und Geschäftsräume genutzt. Heute bezahlt die Stadt sogar die nächtliche Beleuchtung dieses wunderschönen „Architekturdenkmals.“
Die römisch-katholische Kathedrale der Muttergottes wurde 1911 gebaut, 1937 geschlossen, den Gläubigen 1996 zurückgegeben. Am 12. Dezember 1999 wurde sie zur großen Freude der Katholiken neu geweiht; auch unser Berliner Erzbischof Georg Kardinal Sterzinsky konnte dabei sein.

Bei einem Empfang in der Nuntiatur kam ich mit orthodoxen Priestern und Bischöfen ins Gespräch und fragte nach für die Geschichte des Glaubens bedeutsamen Orten in Moskau.
Drei besondere Stätten bleiben mir tief in die Seele eingegraben: der Hinrichtungsort für die Verfolgten des roten Terrors im Süden von Moskau, das Kloster der Barmherzigkeit der hl. Jelisaweta Fjodorowna  im Stadtzentrum und der Leidensort des hl. Patriarchen Tichon im Donskoi-Kloster.

1. Im Süden von Moskau gibt es den Schreckensort Butowski Polygon, zu dem man in der Stalinzeit viele Tausende Menschen aus der Stadt Moskau brachte, die dort erschossen und in Massengräbern beigesetzt wurden. Die meisten Opfer gab es von August 1937 bis Oktober 1938: 20.760 Menschen wurden hier in nur einem einzigen Jahr hingerichtet und verscharrt. Butowski Polygon war von 1934 bis 1953 „in Funktion“. An diesem Ort des Grauens in den Wäldern südlich von Moskau steht nun eine große orthodoxe Gedenk- und Sühnekirche, wo man für die Opfer betet. Die meisten von ihnen waren ganz einfache Arbeiter im Alter von 14 bis 82 Jahren. Ungefähr 1000 der Hingerichteten waren orthodoxe Bischöfe, Priester, Ordensleute, die als mutige Bekenner und treue Märtyrer für ihren Glauben starben. Ebenso fanden unsere katholischen Priester und Gläubigen hier den Tod. Die orthodoxe Kirche hat viele Gedenktafeln mit den Namen, Titeln und Lebensdaten der orthodoxen  Märtyrer aufgestellt, so dass es nicht nur bei einem anonymen, unbestimmten Gedenken und Gebet bleibt. Mit einem russischen Priester bin ich still betend über die Gräberfelder gegangen; es übersteigt alle Verstandes- und Seelenkraft, sich vorzustellen, was sich hier abgespielt haben mag. Und wir haben gebetet, dass das Blut der Märtyrer der Same für neue Christen sein möge, dass Gott das stille Gebet und geduldige Ertragen so vieler um des Glaubens willen zum Segen werden lassen möge für die Menschen und die Kirche Rußlands.

2. An einem anderen Tag besuchte ich im Stadtzentrum von Moskau (nahe der berühmten Tretjakow-Galerie) eine am Tag zuvor vom Patriarchen Kirill wiedereingeweihte Kirche „St. Clemens – Römischer Papst“. Der hl. Papst Clemens, im Römischen Meßkanon erwähnt, starb auf der Insel Krim in der Verbannung.

Ganz in der Nähe war ich dann im in ganz Moskau bekannten Martha-Maria-Kloster, das eine interessante Geschichte hat: Prinzessin Elisabeth von Hessen-Darmstadt (1864 – 1918) heiratete 1884 im Winterpalais in St. Petersburg den russischen Großfürsten Sergej. Auf dieser Hochzeit lernte der spätere russische Zar Nikolaus II. die Schwester von Prinzessin Elisabeth kennen, die er später heiratete und die dann Zarin wurde. So wurde Elisabeth die Schwägerin des letzten russischen Zaren und damit selbst Mitglied der Zarenfamilie. Die Ehe Elisabeths mit ihrem herrschsüchtigen, despotischen Sergej war unglücklich und kinderlos und endete mit einem Attentat auf ihn. Nach dem Mord zog sich Elisabeth für fünf Tage in die Stille des Gebetes zurück, besuchte noch vor der Beerdigung den Attentäter im  Gefängnis, schenkte ihm eine Ikone, verzieh ihm und schickte ein Gnadengesuch an ihren Schwager Zar Nikolaus II. Der Attentäter lehnte eine Begnadigung ab in der Hoffnung, sein Tod würde die revolutionären Bestrebungen voranbringen. Nach dem Trauerjahr beschloss Elisabeth ein anderes Leben zu beginnen: ganz für die Armen, Kranken, Notleidenden zu leben und ihnen zu dienen.

Schon vorher hatte sie den orthodoxen Glauben angenommen und gründete nun das „Martha-Maria-Kloster der Barmherzigkeit“ mit der Gemeinschaft der „Schwestern der Liebe und Barmherzigkeit“. Als Äbtissin  diente sie mit ihren Schwestern den Armen, Kranken und Notleidenden der Stadt. Es gab für diese ein Krankenhaus, ein Waisenhaus, eine Armenspeisung, eine Apotheke, eine Bibliothek – alles unentgeltlich. Im ersten Weltkrieg gingen Schwestern an die Front und halfen in Feldlazaretten. Das schwere persönliche Lebensschicksal verwandelte durch die Gnade Gottes Elisabeth zu einer Heiligen der Nächstenliebe und zum Segen für ungezählte Menschen. Nach der Oktober-revolution 1917 waren die Schwestern vielen Schikanen ausgesetzt; Kaiser Wilhelm II. und andere mahnten, das gefährliche Rußland zu verlassen.  Elisabeth wollte bleiben.

Im April 1918 wurde Äbtissin Elisabeth mit ihrer Mitschwester Barbara und anderen nach Perm im Ural in die Verbannung gebracht, dann nach Jekaterinburg, wo die Zarenfamilie gefangen gehalten wurde, dann nach Alapajewsk in der Nähe. Am 17. Juli 1918 – ein Tag nach der Ermordung der Zarenfamilie – wurden die Äbtissin und andere zu einer stillgelegten Grube gebracht und in einen Schacht gestoßen. Ihre letzten Worte an die Mörder: Herr, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun. (diese Worte hatte sie schon auf den Grabstein ihres einem Attentat zum Opfer gefallenen Mannes Sergej schreiben lassen – Worte des Herrn, an die sie oft dachte).

Äbtissin Elisabeth wurde als Märtyrin heiliggesprochen (ihr Gedenktag ist der 5. Juli).
Ihr Kloster in Moskau lebte 1994 wieder auf, und heute kommen – wie früher – die Armen der Stadt, um in den vielen Einrichtungen der Nächstenliebe ihre leibliche Not zu lindern und in der Klosterkirche bei der Verehrung der Reliquien von der hl. Äbtissin Elisabeth (Jelisawjeta Fjodorowna) als himmlische Fürsprecherin Hilfe bei Gott zu erbitten in den Nöten, die man mit irdischen Gaben nicht lindern kann.

3. Am eindrucksvollsten war für mich der Besuch im Donskoi-Kloster, das von den Kommunisten aufgelöst wurde und wo man Patriarch Tichon unter Arrest gestellt hatte.
Ein orthodoxer Mönch nahm sich zwei Stunden für mich Zeit, um mir alles zu zeigen und zu erklären. Das Donskoi-Kloster im Osten von Moskau ist älter als 850 Jahre und wurde berühmt, als man eine Ikone der Gottesmutter beim Ansturm der Tataren auf Moskau (1380) hierher brachte und unter Fürst Dimitri Donskoi die Stadt vor Besetzung und Plünderung gerettet werden konnte. Auf dem Klostergelände befindet sich neben vielen anderen Gräbern auch die letzte Ruhestätte von Alexander Solschenizyn.
Zar Peter der Große (+1725) hatte das Patriarchat abgeschafft, um selbst die Geschicke der Kirche bestimmen zu können. Nach 200 Jahren gelang es im Chaos der Revolutionswirren der orthodoxen Kirche, das Patriarchat als stabilisierenden Faktor wieder zu errichten. Aber es war in der Anarchie, dem gesellschaftlichen Zusammenbruch und dem roten Terror schon nicht mehr möglich, die gesellschaftliche und religiöse Katastrophe abzuwehren. Im Jahre 1917 wurde Tichon (1865 – 1925) aus drei Kandidaten zum Patriarchen gewählt, eine kleine unscheinbare Person aus ganz einfachen Verhältnissen mit einer großen geistlichen Tiefe. Nach Studium und Mönchsweihe in St. Petersburg schickte man ihn in die USA und nach einigen Jahren in die  baltischen Länder, keine orthodoxen Gebiete, wo er aber als guter geistlicher Vater, von allen beliebt, sehr segensreich wirkte und viele Gemeinden gründete. Einige Zeit arbeitete er dann in der Nähe von Moskau (bei Rjazan). Schon gleich nach der Wahl zum Patriarchen begann die Christenverfolgung: Schließung und Zerstörung von Kirchen und Klöstern; Verhaftung, Hinrichtung oder Verbannung von Bischöfen, Priestern, Ordensleuten und einfachen Gläubigen.

Die Devise von Lenin lautete: soviel Priester wie nur möglich erschießen!

Irgendwo las ich eine offizielle Schätzung: in den Jahren der Diktatur wurden ca. 600 Bischöfe, 40000 Priester, 120000 Mönche und ungezählte Gläubige wegen ihrer Treue zu Christus umgebracht. Die atheistische Propaganda wollte mit Terror eine Gesellschaft ohne Gott errichten. Der Patriarch wurde im schon aufgelösten Donskoi-Kloster unter Arrest gestellt. Es war für mich sehr bewegend, mit dem orthodoxen Mönch die Treppe nach oben zu steigen und in den zwei kleinen Zimmern zu verweilen, wo der ohnmächtige Hirte all die Jahre furchtbar gelitten hatte: ein kleines Schlafzimmer und ein etwas größeres Wohnzimmer mit einem großen Tisch, an dem er immer „Dialoggespräche“ mit der atheistischen Staatsmacht führen musste, die ihn zwingen wollte, Unterschriften zu geben zur Schließung und Auflösung von Bistümern, Kirchen und Klöstern, zur Absetzung von Bischöfen, Äbten, Priestern … Loyalitätser-klärungen gegenüber den Christenhassern …

Durch eine Tür konnte der Patriarch über das Dach zu einem Turm gelangen und in einiger Höhe am Gitter entlang um diesen Turm spazieren gehen, wo er von den Leuten an der Klostermauer gesehen wurde und stumm segnend grüßte. Der Zugang zum Hof war nicht möglich, denn Tag und Nacht saßen zwei Tschekisten (Geheimpolizei) vor der Tür. Im Eingangsbereich der Wohnung gibt es noch einen kleinen Raum für den treuen Diener Jakob, den einzigen Vertrauten des Patriarchen, dessen Familie im Parterre wohnte. Für ein halbes Jahr holte man Tichon in die  berüchtigten KGB-Keller, wo viele hingerichtet wurden; danach brachte man ihn als alten, gebrochenen Mann zurück, der nun manches unterschrieb, was nicht zum ihm passte.

Das furchtbare Leiden des Patriarchen wurde noch vergrößert durch eine Kirchenspaltung in den eigenen Reihen; es bildete sich eine Gruppe von Reform-Orthodoxen, die sogenannten Erneuerer, die eine Modernisierung der Orthodoxen Kirche wollten, eine Anpassung an die neue Zeit. Diese Erneuerer versuchten mit dem Staat zusammenzuarbeiten, erhofften und bekamen auch Vorteile in der Auseinandersetzung mit der Patriarchats-kirche; aber letztendlich half ihnen weder die Anpassung an den Staat noch an die neue Zeit – nach 1935 wurden unter Stalin alle ausgerottet.

Eines Tages zog man alle Geheimpolizisten vom Gelände ab; sogar die beiden Tschekisten vor der Tür des Patriarchen waren verschwunden – irgendetwas würde passieren. Gegen alle Gewohnheit blieb der treue Diener Jakob an diesem Abend länger beim Patriarchen; als es dunkel war, stürmten Unbekannte die Treppe hinauf und verlangten drohend Einlass – und erschossen im dunkeln den treuen Diener in der Meinung, es sei der Patriarch. Dieser Vorfall ist im Torbogen am Eingang zum Kloster eindrucksvoll abgebildet. Jakob bekam ein Begräbnis auf dem Klostergelände; den Patriarchen schaffte man in ein Krankenhaus, wo er einige Zeit später nach einer Spritze starb im Alter von 59 Jahren – sein Kreuzweg war zu Ende. Die staatlichen Behörden ordneten die Beisetzung auf dem ehemaligen Klostergelände in einer der Kapellen unter dem Fußboden an. Eine Frau erzählte mir, dass viele auf das Gelände kamen, in die Nähe des Patriarchen, der die Menschen tröstete und Wunder wirkte. Einige Jahrzehnte später – der antireligiöse Kampf hatte sich verschärft – wollte man diesen heimlichen „Wallfahrten“ ein Ende machen: die staatlichen Behörden bestellten die Vertreter der Kirche, ließen den Fußboden aufgraben und gaben eine öffentliche Erklärung ab, dass das Grab des Patriarchen verschollen sei. Allerdings hatten schon bei der Beisetzung vor Jahrzehnten die Gläubigen mit so etwas gerechnet und den Sarg vorsichtshalber in großer Tiefe vergraben, so dass man ihn nach der Wende wiederfand und dem inzwischen heilig-gesprochenen Patriarchen Tichon einen kostbaren Sarg in der Hauptkirche gab, wo nun viele Pilger und Beter zur Verehrung kommen.

Das Obergewand des Patriarchen aus dem Sarg, das Kreuz und die Heilige Schrift, die der Tote in den Händen hielt, sind nun zur Verehrung in seinen Zimmern ausgestellt.

Der heilige Patriarch Tichon ist ein großes Vorbild für die Gläubigen, ein himmlischer Fürsprecher und ein eindrucksvolles Zeichen der Hoffnung, dass die Pforten der Hölle die Kirche nicht überwältigen können, weil sie Gottes Werk ist. Was hatte der Patriarch nicht alles leiden müssen – rein menschlich gesehen, gab es keine Hoffnung, dass der Glaube irgendwo überleben könnte unter dem roten Terror; in seiner Verzweiflung blieb dem Patriarchen nichts anderes übrig, als betend, leidend, aufopfernd seine geliebte Kirche dem Herrn in die Hände zu legen, IHM alles anzuvertrauen ohne irgendein sichtbares Zeichen der Hoffnung. Und heute sieht man, wie mächtig Gott ist, eine völlig ausweglose Situation zu wenden. Das konnte niemand ahnen. So bleibt uns das Vorbild des hl. Patriarchen Tichon auch heute: nicht der Versuchung der Anpassung an die Staatsmacht oder an die neue Zeit erliegen, in Treue und Liebe zur Kirche für Christus leben, kämpfen  und leiden, IHM im Beten und Aufopfern alles in die Hände legen in dem gläubigen Vertrauen, dass ER auch in menschlich und kirchlich aussichtslosen Situationen immer der Göttliche Sieger bleibt in Zeit und Ewigkeit.

Pfarrer Michael Theuerl

Teltow, am 5. Juli, dem Gedenktag
der hl. Neumärtyrin Äbtissin Jelisaweta Fjodorowna