Ende Oktober 2020 durfte ich den Heiligen Berg Athos besuchen. Die Legende erzählt, dass die Muttergottes mit einigen Aposteln mit dem Schiff unterwegs war. Von der Schönheit dieser griechischen Halbinsel Chalkidiki erfreut, bat sie ihren Sohn Jesus Christus, ihr dieses schöne Stück Land als Garten zu schenken.
Viele Einsiedler kamen dort hin; und vor über 1000 Jahren begann man, große Klöster zu bauen – viele tausend Mönche lebten dort. Heute gibt es auf der Halbinsel die Autonome Mönchs-republik Athos mit 20 Großklöstern (im Durchschnitt je 40 bis 50 Mönche; das russische Panteleimon-Kloster mit über 100 Mönchen), vielen kleinen Klöstern und unzähligen Einsiedeleien.
In der Hauptstadt Karyes in der Mitte der Mönchsrepublik, wo alle Großklöster einen Abge-sandten haben – die Regierung -, muss man lange vor der Pilgerfahrt eine Erlaubnis (Visum) beantragen. Normalerweise dürfen am Tag 100 orthodoxe und 10 nicht-orthodoxe (und nur Männer) zu den Mönchen einreisen – jetzt wegen Corona viel weniger. Man darf 3 Nächte bleiben, kann von einem Kloster in das nächste wandern und bekommt Essen und Unter-kunft unentgeltlich. Man fliegt bis Thessaloniki, dann mit dem Auto bis Ouranopolis, wo sich der Hafen befindet, und nur mit dem Schiff zu dem Haupthafen der Mönchsrepublik, Dafni.
Eine Fähre und ein Schnellboot fahren mehrmals täglich um die Halbinsel, die ca. 50 km lang und 12/15 km breit ist. An einigen Haltestellen besteht die Möglichkeit, ein- oder auszusteigen. So kann man die wunderschönen altehrwürdigen Klöster am Ufer und auf den Bergen bewundern – Zeugen eines radikal auf Gott ausgerichteten Lebens. Bis zum Hafen Dafni brauchten wir mit der Fähre etwa 1 ½ Stunden (eine Fähre, auf der einige Autos Platz fanden, auch für die Arbeit zur Befestigung der Straßen und für die Versorgung). Am Ufer sah ich manche Klostergebäude, die verfallen waren. Manches blieb Ruine; aber ich konnte auch bemerken, dass neues Leben eingezogen war. Inmitten der Ruinen – oder daneben – erwuchsen neue Klöster; man baute direkt in den zerfallenen Gebäuden einige Behausungen für Mönche – ich musste an unsere westliche zerfallene Kirche denken, wo auf dem Fundament Christi punktuell neues geistliches Leben oder sogar Gemeinschaften wachsen – während alles, was sich der „Zeit“ anpasst, – mit der Zeit geht – Ruine wird, was manche als ganz schön empfinden.
Das Leben der Mönche empfinde ich als faszinierend: 8 Stunden Gebet, 8 Stunden Arbeit, 8 Stunden Ruhe. Man bemerkt einen großen Unterschied: Unterkunft, Kleidung, Essen – das äußerlich sichtbare Leben – ist sehr arm, spartanisch, armselig; aber im Gottesdienst und in der Kirche spürt man die Freude, die Schönheit, den Reichtum des göttlichen Lebens. Die äußerlichen Dinge des Lebens sind für die Mönche unwichtig geworden – sie haben der Welt entsagt, sind der Welt gestorben, weil sie bereits in einer neuen Welt leben, der zukünftigen, ewigen, göttlichen. Ihre Gewänder sind alt und abgetragen, einen Friseur braucht man nicht; wenn man hinter den Mönchen die Stufen in die Kirche hinaufgeht, dann sieht man die ausgetretenen, oft zu großen, notdürftig geflickten oder zusammengebastelten Schuhen. Das Essen, das wir Gäste immer zusammen mit den Mönchen im festlich mit Ikonen geschmückten Speisesaal bei feierlichem Tischgebet und mit Tischlesung schweigend ein-nahmen, ist mehr als dürftig: auf jedem Platz steht schon in einer Blechschüssel eine fertige Portion Essen (weiße Bohnen oder Erbsen, immer Gemüse, sonntags Fisch, niemals Fleisch), daneben ein Blechtopf mit Wasser, ein Apfel oder eine Pflaume, Brot – für alle das gleiche. Die Unterkünfte sind entweder Schlafsäle oder Zimmer mit Bett und Stuhl (oder nicht), alt und abgenutzt. Ich habe gemerkt, wie man mit der Zeit sehr „verwöhnt“ ist und habe mir – wenn ich konnte – mit meinem Bett einen Schlafplatz irgendwo auf einer Couch außerhalb gesucht. Diese äußeren „Unannehmlichkeiten“ am Anfang einer solchen Pilgerfahrt haben in mir manchmal einen inneren Widerstand hervorgerufen und die Sehnsucht nach einem gemütlichen Leben zuhause geweckt.
Aber es ist wohl so, dass man das alles deshalb als einschränkend und fremd empfindet, als Mangel, wenn man – verweltlicht – noch nicht den inneren Reichtum der göttlichen Gegenwart verkostet hat. So wie wenn man Liebende fragen würde, ob das nicht ein zu großes Opfer ist, mit dem anderen das Leben zu teilen. Die Einschränkungen spürt man umso mehr, je weniger einem die Liebe und das Ziel vor Augen stehen – und man spürt sie weniger, je mehr man von Liebe und Sinn erfüllt ist.
Die Kirche und Gottesdienste sind die Mitte des Lebens der orthodoxen Mönche auf dem Athos. Morgens um 3 Uhr beginnen bei wunderschönem Sternenhimmel die langen Gottes-dienste. Und sie enden, wenn man um 7.30 Uhr bei strahlendem Sonnenschein aus der Kirche herauskommt. Gegenüber der Kirche befindet sich der Speisesaal – das eucharistische Mahl soll seine Fortsetzung im Brudermahl finden, die Kommunion mit dem Herrn trägt ihre Früchte in der Kommunion untereinander. Gemeinschaft und Einheit kann man nicht ‚machen‘! Nur wo es eine gemeinsame Mitte (Christus) gibt, kann auch eine Gemeinschaft untereinander entstehen. Das ist ja auch sonst so im Leben.
Wir Gäste haben den Mönchen gedankt für ihre freundliche Einladung zur Agape. Allerdings wurden wir korrigiert, dass es sich nicht um ein Frühstück handelt, sondern um das Mittag-essen. Niemals in meinem Leben war ich bereits um 8.30 Uhr mit dem Mittagessen fertig! Die zweite Mahlzeit (auch sonntags) ist gleichsam in das Gebet eingebettet, das um 16 Uhr beginnt – um 18.30 Uhr mit dem kurzen Essen unterbrochen wird – und dann in das ca. eine Stunde dauernde Nachtgebet einmündet. Jedes Mal, wenn der Klostervorsteher mit Glockenzeichen die Tischlesung unterbricht, wird die kurze Mahlzeit mit Gebet beendet. Alles bleibt stehen. Es ist aber offensichtlich erlaubt – wie wir bei einigen Mönchen sehen konnten -, sich einen Apfel oder ein Stück Brot in die Tasche zu stecken.
Das Herz des monastischen Lebens auf dem Athos ist die intensive Christusbeziehung, das Gebet, der Gottesdienst. Wenn man in den nächtlichen Gottesdienst kommt, taucht man ein in eine tiefgläubige Atmosphäre, ja in die spürbare Gegenwart Gottes. Die feierlichen himmlischen Gesänge, die Gegenwart so vieler Heiliger in den kostbaren, reich mit Gold verzierten Ikonen, die im Kerzenschein ihre überirdische Herrlichkeit erstrahlen lassen, die Mönche, die mit ihrer Lebenshingabe bezeugen, dass Gott so groß ist, dass es sich lohnt, ihm sein ganzes Leben zu schenken, der reichlich verwendete Weihrauch, der die Anwesenheit Gottes in den Ikonen verehrt und auch in den Gläubigen als Ikone und Abbild Gottes, das alles ist schon der Himmel auf Erden – aufgestrahlt in der noch auferlegten Begrenzung von Raum und Zeit.
Im Laufe der Gebetsstunden wird es in der Kirche immer heller und man bekommt eine Ahnung davon, dass Christus – die Sonne der Gerechtigkeit, der strahlende Morgenstern, das Licht der Welt – einmal wiederkommt und alle Dunkelheit der Welt zur hellen Freude der Auferstehung führt. Wachen und Beten, das ganze Sein auf den wiederkommenden Herrn ausrichten – das tun die Mönche auch stellvertretend für die vielen, die im Diesseits schon eingeschlummert sind. Das stundenlange Beten in einer fremden Sprache führt in eine tiefere Dimension. Es gibt keine aktuellen Überlegungen, denen man nachgehen könnte, auch der im Westen so übliche Gedanke: ‚wo komme ich hier vor, wie fühle ich mich, wo kann ich mich wiederfinden, mich einbringen?‘ hat im Laufe der Stunden keine Chance zu überleben. Es bleibt die schlichte Anwesenheit in der Größe der Göttlichen Majestät, ein unverzwecktes Dasein – die Freude des Geliebten beim unendlich größeren Liebenden zu verweilen: sprachlos, staunend, beschenkt. So, wie es wahrscheinlich im Himmel sein wird.
So wie das Beten ist, vollzieht sich das gesamte Leben: es ist reine Anwesenheit; man muss nichts leisten, sich nicht beweisen. Das Leben trägt seinen Wert in sich – man ist von Gott geschaffen, von Christus erlöst, der Hl. Geist wohnt mit seiner göttlichen Liebe im Herzen.
Man steht nicht unter dem Zwang, sich Anerkennung verdienen zu müssen; niemand aus der Welt nimmt Notiz davon oder beobachtet, was ein Mönch tut, der ins Kloster gegangen ist. Das Mönchssein schenkt eine große innere Freiheit. Man ist das, was man vor Gott ist, nicht mehr und nicht weniger – unverzwecktes Dasein, wie der Psalmist sagt: vor den Engeln will ich dir singen und spielen, oh Herr.
Für die ersten zwei Nächte hatte ich schon vor der Pilgerfahrt Gastfreundschaft im Kloster Koutloumousiou in der Nähe der Hauptstadt Karyes zugesagt bekommen. Wegen Corona war das eine Voraussetzung, um überhaupt ein Visum für den Heiligen Berg zu erhalten. Viele Klöster hatten per email abgesagt; sie würden zur Zeit überhaupt keine Gäste nehmen. Normalerweise findet man überall freundliche Aufnahme und zieht von Kloster zu Kloster. Aber jetzt war es trotz aller Bitten nicht zu machen, dass eine dritte Übernachtung gewährt wurde. So mussten wir bei den Wanderungen bei anderen Klöstern nachfragen. Ganz in der Nähe fand sich dann beim Kloster des hl. Andreas eine Möglichkeit. Der angesprochene Mönch konnte sogar deutsch: wir sollten am nächsten Tag um 12 Uhr da sein. St. Andreas war einmal ein großes russisches Kloster. Als nach der Oktoberrevolution 1917 keine Mönche mehr kommen konnten, verfiel alles langsam – wie man noch heute sehen kann. Die immer älter und weniger werdenden Mönche konnten es nicht schaffen, das große Anwesen zu erhalten. Später übernahmen griechische Mönche das Kloster und bemühen sich nun, nach und nach alles instand- zusetzen. Jeden Abend am Ende des Abendgebetes dürfen Mönche und Gäste die große Kostbarkeit des Klosters verehren: das Haupt des hl. Apostels Andreas.
Viele orthodoxe Nationen (Rumänien, Serbien, Rußland, Georgien …) haben ihre eigenen Klöster auf dem Heiligen Berg. Der Zerfall setzte ein, als im Kommunismus niemand mehr kommen konnte. Das größte Kloster St. Panteleimon wurde nach der Wende mit Mitteln der russischen Regierung sehr großzügig wiederaufgebaut und restauriert. Die meisten Klöster sind griechisch-orthodox.
Als Nicht-Orthodoxe, was eigens auf dem Visum vermerkt ist, wird man darauf hingewiesen, dass man in der Kirche die Plätze ganz hinten einnehmen muss. Eine gewisse Reserviertheit konnte ich auch spüren als es um die Eintragung in das Gästebuch ging. Mein Begleiter wurde zuerst gefragt, und seine Daten wurden eingetragen. Als ich an der Reihe war und nach meinem Beruf gefragt wurde, meinte der Mönch, dass man ‚Priester‘ nicht einschreiben könne – und so wurde ich auch als ‚Pensionär‘ geführt. Einige Male haben mich verschiedene Mönche gefragt, ob ich Priester sei – obwohl ich Wanderkleidung anhatte. Aber ich konnte keine Feindseligkeit oder Abneigung spüren.
Die Gastfreundschaft wird überall sehr großgeschrieben. Nirgendwo muss man etwas bezahlen oder steht ein Sammelkasten. Einige Male haben wir nachgefragt, wo man eine kleine Spende abgeben könnte. Die Mönche waren sehr verlegen und wussten nicht so recht. Schließlich sagten sie: legt das zu den Kerzen in der Kirche.
Bei den Mönchen von Athos hatte ich den Eindruck, in einer anderen Welt zu sein – der richtigen, der wirklichen, wo man den vergänglichen Dingen dieser Welt den ihnen gebührenden Platz zuweist und für das lebt, was bleibt und was ewig ist, für DEN, der der Herr der Zeiten und Welten ist. Stellvertretend für die vielen, die Gott vergessen haben, halten die Mönche die Welt offen für DEN, von dem alles Leben kommt und ohne DEN sonst alles ins Nichts versinken würde. Und für die, die noch ein bisschen wach sind, bleiben die Mönche eine beständige Erinnerung und Mahnung, sich nicht vom Leben abzuschneiden. Mögen wir alle mit den Mönchen deren irdische und ewige Freude teilen dürfen: Gott nahe zu sein ist mein Glück!
Pfarrer Michael Theuerl
Teltow, am 19. November 2020